Freitag, der 22. September 2017
Sehr geehrter Herr Schuster,
am Sonntag ist Wahl. Gehen Sie hin, falls Sie nicht schon per Brief gewählt haben. Als SZ-Abonnent wissen Sie ohnehin, dass das Wahlrecht zu den vornehmsten Rechten in der Demokratie gehört. Gewiss, es kann triftige Gründe geben, dass man an diesem Sonntag nicht wählen gehen kann. Keine triftigen Gründe jedenfalls liegen darin, wenn einer (oder eine) sagt, „die“ Parteien und „die“ Politiker seien doch alle gleich oder man finde keine Partei, der man seine Stimme geben wolle.
Im nächsten Bundestag werden so viele, so verschiedene Parteien sitzen wie niemals zuvor. Es wird die Rechtspartei geben, die sich selbst Alternative für Deutschland nennt, und es wird die Linkspartei geben, die für sich selbst in ihrem offiziellen Namen Die Linke alles, was sie für wirklich links hält, beansprucht. Merkels CDU und ihre bewusst dissidente kleine Schwester CSU sind dezidiert anders als die SPD. Die Grünen sind zwischen dem Kretschmann- und dem Hofreiter-Roth-Flügel ein sehr weit gespanntes Zelt, in dem sehr viel von links bis Mitte Platz hat. Die FDP schließlich versucht einerseits, an ihre alte Klientel anzuschließen, die aufgeklärten Steuerzahler, die sich vom Staat zu stark gegängelt fühlen. Andererseits will sie an Hipsterinnen und Hipster jeder Art andocken, um möglichst viele junge Wähler zu kriegen. Und jenseits dieser Parteien, die ins Parlament einziehen werden, gibt es noch für nahezu jeden Geschmack eine Nischenpartei. Wer da nicht findet, wovon er sich vertreten lassen kann, der hat nicht richtig gesucht. Oder er hat keinen Bock.
Außerdem gibt es dieses Mal auch mindestens einen guten, eigentlich einen schlechten Grund, alles andere als diese eine Partei zu wählen, deren einer Spitzenkandidat Deutsche in die Türkei „entsorgen“ will und die Wehrmacht lobt, während die andere Spitzenkandidatin ihren privaten Rassismus in E-Mails pflegt und sich dann nicht traut, dazu Stellung zu nehmen. Das ist Trump in Schwarz-Weiß-Rot, den alten Reichsfarben. Ja, das ist gewissermaßen eine Nicht-Wahlempfehlung.
Eine wirkliche Wahlempfehlung werden Sie auch dieses Mal nicht auf der Meinungsseite der Süddeutschen lesen. Diese Zeitung hat nie eine Wahlempfehlung abgegeben, auch wenn man im Laufe der Zeit als Leser (und als Redaktionsmitglied) die politischen Präferenzen (nicht unbedingt die parteipolitischen) etlicher Kommentatorinnen und Kommentatoren einzuschätzen gelernt hat. Dennoch sollte sich eine Zeitung nicht auf die Seite einer Partei schlagen.
Dies hat auch historische Gründe. In der Weimarer Republik war die Presse ganz überwiegend Partei- oder Parteirichtungspresse. Die Medien nahmen in gewisser Weise am politischen Kampf teil; sie hatten nicht die Beobachter- sondern oft eine Mitmacherrolle. Die Leser wussten von ihrer Zeitung, welche Partei die Redaktion bevorzugt. Entsprechend problematisch war es, wenn das jeweilige Blatt eigentlich kritisch über Vorgänge in dieser Partei oder über Handlungen von Politikern dieser Partei schreiben sollte. Was es bedeutet, wenn es nur noch Parteipresse gibt, zeigte dann die Nazi-Zeit.
Nach dem Krieg entwickelte sich ein Konsens unter deutschen Zeitungen, soweit es sich nicht um Parteiblätter wie den Bayernkurier oder den Vorwärts handelte: keine Wahlempfehlungen, keine zu große Nähe zu einer Partei. Letzteres wurde allerdings sehr unterschiedlich gehandhabt. In Nordrhein-Westfalen gab es die einst klassischen SPD- und gewerkschaftsnahen Blätter, in der alten Welt oder in der FAZ fand man tendenziell häufiger CDU-Positionen, die SZ tummelte sich mehr im damals sozialliberalen Milieu. In Bayern konnte man früher in manchem Leitartikel in Passau oder Ingolstadt klarere CSU-Positionen lesen, als man sie manchmal in der CSU selbst zu hören bekam.
Vieles davon hat sich in den vergangenen 20 oder 25 Jahren, wie Deutschland insgesamt, sehr verändert. Als Chefredakteur der SZ bekomme ich übers Jahr ein paar Hundert Briefe oder E-Mails, in denen sich Leser darüber beschweren, dass die SZ zu links sei, dass sie nicht mehr links genug sei, dass sie die FDP benachteilige, dass sie die Linkspartei abwerte, dass sie die SPD niederschreibe, dass sie ein schreckliches Vorurteil gegenüber allem pflege, was mit der CSU zu tun habe und natürlich auch, dass sie nicht nur keine Ahnung von der CDU habe, sondern sie diese Partei auch aus historischen und anderen Gründen verachte.
Kurzum: Wir können es in dieser Hinsicht niemandem recht machen. Und so soll es auch sein und bleiben. Wir wollen es keiner Partei recht machen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht klar Stellung beziehen zu den Problemen. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht keine Meinung „der“ Zeitung. Das wiederum heißt, dass Sie in der SZ einen Leitartikel lesen können, warum Schröder mit Hartz IV richtig lag, Ihnen aber ein anderer SZ-Kommentator zwei Tage später erklärt, warum Hartz IV schlecht war und ist. Ich habe es immer wieder mal gesagt: Die Meinung der Zeitung setzt sich aus der Vielfalt der Meinungen derer zusammen, die in dieser Zeitung kommentieren. (Dass das nicht alle Leser glauben, weil sie, egal ob von links oder von rechts, die Mainstream-Theorie ins Feld führen, gehört dazu, muss aber deswegen nicht stimmen.)
Weil das alles so ist, wird Ihnen kein Kommentator auf der morgigen Seite Vier nahelegen, wen Sie wählen sollen. Ich bin sicher, Sie wissen das selbst. Wenn Ihnen die SZ über die Monate und Jahre dabei geholfen hat, diese, Ihre Meinung zu bilden, ist das fein.
Ich weiß, wen ich wählen werde. Aber das muss ich nicht in der Zeitung ausbreiten und begründen. Ich werde am Sonntagvormittag jedenfalls dieses wunderbare individuelle, und dennoch für alle so bedeutende Recht wahrnehmen. Sie doch sicher auch?
Ich wünsche Ihnen ein schönes und spannendes Wahl-Wochenende
Kurt Kister
Chefredakteur